Interview mit Assoz. Prof. Dr. Martin Angerer:
Von der Funktionsweise, den Chancen und den Zukunftsperspektiven der Blockchain-Technologie

Blockchain, Bitcoin, FinTechs und Kryptowährungen sowie die damit verbundenen disruptiven Potenziale sind derzeit in den Medien allgegenwärtig. Liechtenstein nahm von Beginn an eine globale Führungsrolle in dieser revolutionären Entwicklung ein. Blockchain-Technologien sind keine Weiterentwicklungen bestehender Systeme, sondern in den meisten Fällen ganz neue Ansätze, um bestehende Probleme zu lösen und Prozesse zu verbessern. Aus diesem Grund gibt es noch kaum Lehrbücher oder Praxisbeispiele. Die Universität Liechtenstein bereitet in verschiedenen Studiengängen und -programmen Studierende und Interessierte auf den Einsatz dieser neuen Technologien vor.

Assoz. Prof. Dr. Martin Angerer, Universität Liechtenstein

Assoz. Prof. Dr. Martin Angerer ist Professor an der Universität Liechtenstein und forscht und lehrt in den Feldern Innovative und Digital Finance. Als Leiter des Innovative Finance Labs der Universität führt er sowohl Forschungsprojekte als auch Praxisprojekte mit interessierten Unternehmen durch. 
©Martin Walser

Die Kombination aus dem Zugang zum europäischen Binnenmarkt, der Kompetenz eines etablierten Finanzplatzes und einer gegenüber zukunftsweisenden Technologien aufgeschlossenen Regierung macht Liechtenstein zu einem interessanten Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort. Die Universität Liechtenstein bietet bereits seit 2018 den Zertifikatsstudiengang «Blockchain und Fintech» an. Was dürfen die Studierenden erwarten?

Der Zertifikatsstudiengang «Blockchain und Fintech» an der Universität Liechtenstein ist prägend für alle Fachrichtungen im Wirtschaftsbereich. Die Universität befasst sich insbesondere in den drei Kernfächern Finance, Entrepreneurship und Information Systems mit der Blockchain-Technologie, die inzwischen disziplinübergreifend eine wichtige Rolle spielt. Besonders in der Finanzwelt hat sich die Blockchain einen Namen gemacht, vor allem, weil sie mit der Kryptowährung Bitcoin entwickelt wurde und somit ihre erste Anwendung im Finanzbereich fand. Dies macht sie eben dort besonders präsent und am weitesten entwickelt.

Mittlerweile kommen alle unsere Wirtschaftsstudierenden mit der Blockchain-Technologie in Kontakt, unabhängig von ihrem Studienfach. Seit nunmehr ungefähr acht Jahren hat die Technologie in unterschiedlichen Anwendungsfeldern signifikant an Bedeutung gewonnen, und die Universität Liechtenstein integriert sie mittlerweile in die Lehrinhalte der meisten Studiengänge der Aus- und Weiterbildung. Somit kommt jede und jeder Wirtschafts-studierende der Universität Liechtenstein, während des Studiums mit dem Thema Blockchain in Berührung.

Die hohe Nachfrage nach unseren Weiterbildungsprodukten zum Thema Blockchain zeigt, dass auch die Finanzindustrie erkannt hat, wie wichtig diese Technologie ist, um auch zukünftig international konkurrenzfähig bleiben zu können.

Warum ist das Thema Blockchain überhaupt so wichtig geworden?

Die Arbeits- und Wirtschaftswelt hat sich in den letzten zehn Jahren technologisch extrem schnell entwickelt. Bereits 1970 bis 2000 waren die Fortschritte beeindruckend, aber das Tempo der Entwicklungen stieg von 2000 bis 2024 in einem weit grösseren Ausmass. Die Digitalisierung trägt wesentlich dazu bei, dass Prozesse laufend effizienter, kostengünstiger und leistungsfähiger werden. So ist auch die Blockchain-Technologie aus der heutigen Arbeitswelt nicht mehr wegzudenken. Technologien unterliegen zwar immer einem Wandel und nicht jede Technologie wird erfolgreich, aber ich glaube, dass man nach acht Jahren Erfolgsgeschichte sagen kann, dass Blockchain eine Technologie ist, die bleiben wird.

Wie funktioniert ganz knapp formuliert die Blockchain-Technologie und wofür kann man sie verwenden?

Es handelt sich vereinfacht gesagt um eine spezifische Form einer Datenbank, in der Transaktionen ohne eine übergeordnete Kontrollinstanz möglich sind. Dadurch können sie ohne die Beteiligung von weiteren Intermediären effizienter durchgeführt werden. Das bekannteste Anwendungsbeispiel dafür ist das Zahlungssystem Bitcoin, bei dem Transaktionen ohne die Notwendigkeit einer Bank abgewickelt werden können.

Die Blockchain-Technologie bietet also eine dezentrale, transparente und sichere Methode zur Verwaltung von Informationen und Transaktionen. Wo sehen Sie die Chancen für die Wirtschaft?

Es gibt inzwischen zahlreiche potenzielle Anwendungsfälle, bei denen durch den Einsatz der Blockchain Transaktionen vereinfacht werden, wie beispielsweise der Kauf und Verkauf von Grundstücken. Dieser kann auf der Blockchain eindeutig und mit wenigen oder gar keinen Intermediären abgebildet werden. Auch im internationalen Warenhandel können Prozesse, die derzeit grossteils manuell durchgeführt werden, mit Hilfe der Blockchain-Technologie verschlankt und vereinfacht werden. Mittels der vollständigen Abbildung der Transaktion auf einer Blockchain werden die Anzahl der erforderlichen Intermediäre und somit die Kosten erheblich reduziert.

Obwohl sich diese Entwicklung noch in den Anfängen befindet, ist das Potenzial enorm. Viele Unternehmen haben dies bereits erkannt und investieren in diese Entwicklung, um sich langfristig einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen.

Wie lassen sich mit der Blockchain-Technologie Einnahmen generieren?

Neben der genannten Effizienzsteigerung eröffnet die Blockchain-Technologie auch Chancen durch die Entstehung neuer Geschäftsmodelle. Ein Beispiel dafür ist die Tokenisierung von Kunstwerken, die auch in Liechtenstein schon angeboten wird. Durch die Abbildung auf der Blockchain und die Verpackung in Tokens können auch schwer teilbare Vermögenswerte, wie Kunstwerke, digital repräsentiert und in kleineren Einheiten gehandelt werden. Dies schafft nicht nur eine effiziente Verwaltung, sondern ermöglicht auch einen breiteren Zugang und Handel mit solchen Vermögenswerten, auch auf internationaler Ebene. Dies ist aber nur ein Beispiel von sehr vielen.

Welche weiteren Anwendungsmöglichkeiten der Blockchain-Technologie sind Ihrer Meinung nach auch global zukunftsweisend?

Ein zentraler Vorteil der Blockchain-Technologie ist die einfache Zugänglichkeit. Der Zugriff auf eine Blockchain erfordert lediglich Internet, Smartphone oder Computer. Für eine Transaktion von Kryptowährungen, wie Bitcoin oder anderen Tokens, benötigt man also keine traditionelle Bank mehr. Dies eröffnet vor allem in Entwicklungsländern, wo nach wie vor die meisten Menschen keinen Zugang zu einem Bankensystem haben, spannende neue Möglichkeiten.

Medial wird manchmal der Eindruck vermittelt, dass Blockchain-Lösungen verwendet werden, um Vorgänge in der Kryptowelt zu verschleiern. Trifft dies zu?

Ganz im Gegenteil. Ein herausragendes Merkmal der Blockchain ist die Transparenz. Eine Blockchain kann so gestaltet werden, dass alle Transaktionen öffentlich einsehbar sind. Dies ist beispielsweise im Bereich der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) sehr spannend. Denn eine der häufigsten Herausforderungen dieser Organisationen besteht darin, Spendern glaubwürdig zu vermitteln, was mit den geleisteten Spenden tatsächlich passiert. Eine transparente Abbildung auf der Blockchain ermöglicht völlige Transparenz über den Spendenfluss. Die Blockchain schafft somit Vertrauen in deren Arbeit. Auch hier sehen wir eine Chance für die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle. Zum Beispiel haben wir als Universität Liechtenstein, gemeinsam mit UNICEF Schweiz und Liechtenstein, sowie dem Liechtensteiner Bankenverband und anderen Partnern ein Projekt namens «Youth Green Finance Initiative» ins Leben gerufen. Gemeinsames Ziel des Projekts ist es, innovative FinTech-Technologien zu nutzen, um NGOs zu unterstützen.

Welche Antworten haben Sie auf folgende Stichworte:

  1. Risiken

Die Entwicklung neuer Technologien birgt immer Risiken, da es keine Sicherheit gibt, das angestrebte Ziel auch wirklich zu erreichen. Selbst bei einer reinen Umstellung von Prozessen bleiben noch Prozessrisiken. Bekanntestes Beispiel für einen Misserfolg waren Initial Coin Offerings, kurz ICOs, oft durchgeführt im Jahr 2019. Diese waren eine Art Crowdfunding mit Kryptowährungen. Dabei wurden oft Investoren getäuscht und in betrügerischer Absicht Investitionsgeld für teilweise nicht einmal existierende Unternehmen eingesammelt. Betrugsfälle wie diese führten zu einem bedeutenden Lerneffekt über die Gefahren im Einsatz der Technologie. Dabei ist es besonders wichtig zu betonen, dass bei diesem und ähnlichen Betrugsfällen nicht die Blockchain-Technologie als solche versagt hat; diese hat technisch sehr gut funktioniert, sie wurde lediglich fehlerhaft angewandt.

  1. Solidarhaftung

Im Bankenbereich stellt man nicht das gesamte Bankensystem in Frage, wenn eine einzelne Bank betrügt. Im Kryptobereich ist das anders: für ein «schwarzes Schaf» werden alle Akteure, inklusive die Technologie selbst, verurteilt und medial abgestraft. Dies wirkt sich leider zu Unrecht negativ auf den gesamten Sektor aus.

  1. Kostenintensiv

Bei Blockchains gibt es verschiedene Technologieansätze, vergleichbar mit Autos – es gibt grosse Autos mit grossen Motoren für schwere Lasten und kleine, effiziente Autos. Genauso gibt es unterschiedliche Arten von Blockchains. Die Bitcoin-Blockchain erfordert energieintensive Prozesse aufgrund ihrer Fokussierung auf Sicherheit. Es ist durchaus möglich, weniger energieintensive Blockchains zu erstellen, jedoch geht dies zu Lasten der Sicherheit. Man muss abwägen, welche Art von Blockchain für welche Anwendung benötigt wird, da nicht für jeden Prozess der höchste Sicherheitsstandard erforderlich ist. So benötigt man beim Einkauf im Supermarkt ja auch nicht den gleichen Sicherheitsstandard wie beim Kauf eines Grundstücks im Wert von mehreren Millionen.

  1. Geschwindigkeit

In der Tat muss man beachten, dass die sehr sicheren Blockchains im Vergleich zu traditionellen Zahlungssystemen relativ langsam sind – sie können pro Minute nur eine begrenzte Anzahl von Transaktionen verarbeiten. Es gibt Bemühungen, dies zu ändern, etwa durch die Einführung von sogenannten «Second-Layer-Lösungen». Zum Beispiel wäre es denkbar, dass Bezahlungen im Supermarkt nicht einzeln und unmittelbar auf der Blockchain festgehalten, sondern in einer Sammeltransaktion am Ende des Tages abgebildet werden. Da diese Entwicklung in diesem Bereich noch in den Kinderschuhen steckt und kaum Anwendung findet, sind Blockchain Transaktionen derzeit jedoch noch vergleichsweise langsam und teuer.

Liechtenstein hat mit dem Blockchain-Gesetz eine weltweit einzigartige Regulierung und die dafür notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen und Grundlagen geschaffen. Welchen Effekt hatte dies?

Mit dem am 1.1.2020 in Kraft getretenen sogenannten «Blockchain-Gesetz» (Token- und VT-Dienstleister Gesetz – TVTG) hat Liechtenstein für diese neue Technologie Rechtssicherheit geschaffen und so für internationale Aufmerksamkeit gesorgt. Mittlerweile zieht auch die EU mit der sogenannten MICAR-Verordnung nach, die Liechtenstein als Teil des EWR ebenfalls umsetzen muss. Trotz wachsender regulatorischer Vorgaben von aussen ermöglicht die Kleinheit des Landes im Vergleich zu grösseren Staaten einen effizienten Austausch und schnelle Anpassungen an neue Gegebenheiten. Die langfristigen Chancen für den Wirtschaftsstandort sind daher unbestritten.

Die Blockchain scheint sich zu etablieren. Wie geht es nun weiter?

Hier gibt es meiner Meinung nach zwei wesentliche Aspekte. Einerseits stellt sich die Frage, wie man die Akzeptanz für diese Technologie in der breiten Bevölkerung steigern kann und andererseits, ob sie sich langfristig positiv auf die Wirtschaft auswirkt. Die Wirtschaft Liechtensteins hat eine vergleichsweise progressive Haltung gegenüber der Blockchain-Technologie eingenommen. Progressiv bedeutet in diesem Kontext aber nicht, das Risiko zu ignorieren, sondern einen offenen Umgang mit dem Thema einzunehmen, auch seitens der Regierung, der Universität und der Finanzmarktaufsicht. Das Land Liechtenstein signalisiert hier geschlossen: Wir glauben an diese Technologien und möchten darin eine Vorreiterrolle einnehmen.

Wenn es um die Steigerung der Akzeptanz in der Bevölkerung geht, ist die Lage etwas schwieriger. Hier muss es gelingen, den schlechten Ruf aufgrund einzelner Missbrauchsskandale vom technischen Potenzial zu trennen. Eine transparente und leicht verständliche öffentliche Kommunikation spielt dabei eine wesentliche Rolle. Noch fehlt die spürbare Anwendung dieser Technologie im Alltag. Ich bin jedoch überzeugt, dass die Akzeptanz steigen wird, sobald es hier konkrete Anwendungen gibt. Dies konnten wir beispielsweise anhand von ChatGPT beobachten: hier wurde durch die Öffnung für die breite Bevölkerung ein besseres Verständnis für das Thema Künstliche Intelligenz im Allgemeinen erreicht.

Welche Rolle spielen die Wissenschaft und die Universität als Ganzes in der Umsetzung dieser neuen Technologie?

Es kristallisiert sich zunehmend heraus, dass sich unsere Gesellschaft mit hohem Tempo in eine Wissensgesellschaft wandelt. Dies gilt umso mehr für ein Land wie Liechtenstein, das aufgrund seiner begrenzten Fläche und Bevölkerung den überwiegenden Teil seiner Produktivität aus Wissensarbeit erwirtschaftet. Die Universität ist einerseits eine wichtige Institution im Land, um junge Fachkräfte auszubilden und bereits bestehende Experten weiterzubilden. Ihre Aufgabe besteht aber ebenfalls und gleichrangig darin, als Forschungsinstitution unabhängige Erkenntnisse zu liefern und zu überprüfen. Diese Unabhängigkeit, sowie der sehr hohe Forschungs- und Entwicklungsstandard machen die Universität Liechtenstein auch zur perfekten Partnerin für die Wirtschaft zur Erforschung und Umsetzung innovativer Ideen. Die Türen der Universität stehen also für alle, Unternehmen, Politik oder Bevölkerung, gleichermassen offen zum Austausch und zur aktiven Kooperation.
 

Wir bedanken uns bei Assoz. Prof. Dr. Martin Angerer für das Interview.
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16. Februar 2024