Vom Agrarstaat zum Wirtschaftsstandort
Der Zollvertrag zwischen Liechtenstein und der Schweiz wird hundert Jahre alt. Er ist eine der Ursachen für die imponierende Entwicklung des kleinen Fürstentums zum attraktiven Wirtschaftsmotor einer ganzen Region.
(Beitrag von Marius Leutenegger)
Sehr klein, aber sehr, sehr fein: Liechtenstein ist eines der reichsten Länder der Welt. Mit einem Bruttoinlandsprodukt(BIP) von rund 6,6 Milliarden Frankenplatziert es sich auf der Rangliste derLänder nach BIP zwar nur um Platz 150. Doch in Liechtenstein, dem sechstkleinsten Staat der Erde,leben nichteinmal 40000 Menschen - und das ergibt pro Kopf ein sagenhaftes BIP von über 165 000 Franken. Höchstens Luxemburg und ein bsp;Stadtstaaten sich noch in solchen Sphären. Besonders erstaunlich ist diese wirtschaftliche Stärke,wenn man ihre Entwicklung betrachtet. Noch vor etwas mehr als hundert Jahren war das Fürstentum sehr arm. Als winziger Agrarstaat mit ausgesprochen dörflichem Charakter fand das Land erst spät den Weg zur Industrialisierung, zudem war das Fürstentum lange Zeit zollpolitisch isoliert. Erst der Zollvertrag mit Österreich-Ungarn, der 1852 abgeschlossen wurde und Liechtenstein zu einem Teil des österreichischen Währungsraums machte,ermöglichte dem Fürstentum, vor allem mit Textilprodukten auf den internationalen Märkten Fuss zu fassen. Doch im Ersten Weltkrieg schadete die Verbindung zum Habsburgerreich der liechtensteinischen Wirtschaft massiv; die Entente erliess eine Rohstoffsperre gegen Österreich-Ungarn, und damit erhielt auch die Textilindustrie des Fürstentums keine Baumwolle mehr. 1917 schloss die letzte Fabrik. Und es kam noch schlimmer:Die Hyperinflation der österreichischen Krone vernichtete die Bankguthaben im Fürstentum. Es folgten eine schwere Finanzkrise, ein Beinahe-Kollaps des öffentlichen Haushalts – und schliesslich die Kündigung des Zollvertrags mit Österreich 1919.
Magnet für Firmen und Geld
Vom Tiefpunkt aus kann es nur noch aufwärts gehen, und Liechtenstein legte ab da einen eindrücklichen Aufstieg hin. Eine wichtige Ursache dafür war der neue Zollvertrag mit der Schweiz, der 1923 geschlossen wurde. Er sorgte für in jeder Hinsicht offene Grenzen zwischen den beiden Staaten. 1924 wurde der Schweizer Franken zudem offizielles Zahlungsmittel. Es wäre aber falsch zu behaupten, das Fürstentum sei im Schlepptau der Schweiz reich geworden, es überholte die Eidgenossenschaft spätestens in den Sechzigerjahren dank eigener Stärken. Schon 1923 trat ein für Holding- und Domizilgesellschaften attraktives Steuergesetz in Kraft, was viele Firmen ins Land lockte. Die Wirtschaft des Landes veränderte sich in den folgenden Jahrzehnten radikal: Die Landwirtschaft verlor ihre Bedeutung, die Industrie boomte – und der Finanzplatz explodierte förmlich. Dank einem breiten Angebot auf engstem Raum und seiner internationalen Ausrichtung etablierte er sich schnell als gewichtiger Nischenplayer.
56 Prozent der Beschäftigten pendeln
Geht es um Standortvorteile, ist Liechtenstein so was wie eine kleine Schweiz: Die Stärke der Wirtschaft fusst wesentlich auf der ausserordentlichen politischen Stabilität, einer liberalen Wirtschaftspolitik, niedrigen Steuern, einer guten internationalen Vernetzung – Liechtenstein ist Mitglied des EWR, der EFTA und der OSZE –, einer erstklassigen Infrastruktur, kurzen Entscheidungswegen und dem Arbeitsfrieden. Produziert werden vor allem Hightech-Produkte im Maschinenbau und Nahrungsmittel; die grösste Bedeutung hat inzwischen aber der Dienstleistungssektor.Ähnlich wie in der Schweiz ist es auch im Fürstentum nicht möglich, die Nachfrage nach Arbeitskräften mit der eigenen Bevölkerung zu decken. Gegenwärtig bieten die rund 5300 in Liechtenstein ansässigen Unternehmen 44 000 Arbeitsplätze – die Zahl liegt deutlich über jener der Einwohnerinnen und Einwohner. 56 Prozent der Beschäftigten sind Pendlerinnen und Pendler; rund sechzig Prozent von ihnen leben in der Schweiz, über ein Drittel in Österreich.Eine ganze Region profitiert direkt von der wirtschaftlichen Potenz des Fürstentums;sie erstreckt sich über die Kantone St. Gallen, Thurgau und die beiden Appenzell sowie über das österreichische Bundesland Vorarlberg. Als Arbeitsort ist Liechtenstein überaus beliebt;das ächste Naherholungsgebiet liegt in der Regel auf der anderen Strassenseite,die Verkehrsanbindungen und Einkaufsmöglichkeiten sind hervorragend. Und die Arbeitsplätze sind, typisch Hochlohnland,hochwertig; es wird viel in Forschung und Entwicklung investiert.Die Innovationsmentalität der Wirtschaft macht Liechtenstein auch zu einem beliebten Standort für Start-ups.Ein Beispiel für eine neu gegründete Firma ist maXerial Röntgendiagnostik in Vaduz. Die drei Gründer Roger Herger,Patrick Bleiziffer und Thorsten Wiege haben unter anderem eine industrielle Röntgentechnik und Computertomografie entwickelt, die einen 3-D-Blick in Bauteile oder Werkstoffe und damit eine bessere Fehleranalyse ermöglicht. Zwei der Firmengründer arbeiteten bereits zuvor in Liechtenstein, beim grössten Arbeitgeber Thyssenkrupp Presta. «Für uns ist der Standort sehr wichtig», sagt CEO Roger Herger. «Unsere Zielgruppe sind die Ingenieure von Hightech-Produkten, wir müssen in deren Nähe sein, weil wir ihre Produkte zur Kontrolle erhalten.» Es gebe nicht viele Technologie-Cluster wie Liechtenstein. Thorsten Wiege, CTO von maXerial ergänzt: «In einem so kleinen Land wie Liechtenstein kennt man die Leute rasch, man kann sich hier schnell ein ausgezeichnetes Netzwerk aufbauen.» Eine Firma in Liechtenstein zu gründen, sei zudem sehr einfach, sagt Roger Herger. «Wir konnten alles selber machen und benötigten keinen Anwalt.»Steuerlich sei Liechtenstein sicher attraktiv,das habe für maXerial aber keine wesentliche Rolle gespielt. «Entscheidend bleibt für uns, so viele interessante Firmen gleich um die Ecke zu finden.» Und langfristig sei wohl ein Vorteil, dass Liechtenstein im Unterschied zur Schweiz dem EWR angehöre. «Mit Partnern in der EU können wir so auf Augenhöhe zusammenarbeiten.»
Hohe Lebensqualität
Aber wie ist es denn, in Liechtenstein zu leben? Roger Herger zog schon vor vielen Jahren aus seiner Heimat, dem Kanton Zug, nach Triesen im Süden des Fürstentums.«Natürlich steppt hier nicht der urbane Bär», sagt er, «aber genau das suchten wir auch – einen Ort, wo Entschleunigungmöglich ist. Meine Frau und ich sind sehr gern in der Natur, und es gibt auch viele kulturelle Trouvaillen zu entdecken.» Abgesehen davon seien Zürich, St. Gallen oder Chur schnell erreichbar. Thorsten Wiege, der in der Gegend von Münster in Nordrhein-Westfalen aufwuchs, kann sich Roger Herger nur anschliessen. «Ich zog als Trainee hierher – und lernte die Region schnell schätzen und lieben. Die Freundlichkeit der Leute, die schöne Natur, die zentrale Lage sorgen für eine hohe Lebensqualität.» Fast jedes Wochenende gehe er skifahren oder wandern. «Manchmal gerate er schon fast in Freizeitstress.»
Weltweit tätige Unternehmen
Rund vierzig Prozent der Arbeitsplätze in Liechtenstein entfallen auf den zweiten Sektor – damit ist das Fürstentum eines der stärksten industrialisierten Länder der Welt.
«Die kurzen Wege werden sehr geschätzt»
Sabine Monauni ist seit 2021 Mitglied der fünfköpfigen Regierung von Liechtenstein. Die Regierungschef-Stellvertreterin und Ministerin für Inneres, Wirtschaft und Umwelt über die EU, Standortvorteile und erneuerbare Energien.
Liechtenstein und der Schweiz wird dieses Jahr hundert Jahre alt. Wie wichtig war er für die Entwicklung der Wirtschaft des Fürstentums?
Er war und ist von zentraler Bedeutung für unseren wirtschaftlichen Erfolg. Der Zollvertrag hat uns den Zugang zu einem erweiterten Markt, zu Arbeitskräften und zu einem weltweiten Netzwerk von Freihandelsabkommen verschafft. Und auch
die gemeinsame Währung trägt zur Stabilität unserer Wirtschaft bei.
Liechtenstein ist Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums, die Schweiz nicht. Warum beendet das Fürstentum die Zollunion mit der Schweiz nicht, wird Teil der EU und übernimmt den Euro als Währung?
Eine Loslösung von der Schweiz kommt für uns nicht in Frage. Die Verbundenheit mit der Eidgenossenschaft ist zu gross. Dass wir gleich an zwei Wirtschaftsräume angeschlossen sind, ist einzigartig und gehört zu unseren Standortvorteilen. So haben zum Beispiel viele Unternehmen aus der Schweiz bei uns eine Zweigniederlassung eröffnet, um ein Standbein im EWR-Raum zu haben.
Zwei verschiedne Wirtschaftsräumen – führt das nicht zu rechtlichen Schwierigkeiten?
Tatsächlich kann es in Einzelfällen zu einem Regelungsgefälle zwischen den beiden Räumen kommen. Aufgrund der bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU sind widersprüchliche Regulierungen jedoch selten. In den rund dreissig Jahren, in denen wir dem EWR angehören, konnten wir alle diese Fälle pragmatisch lösen – auch dank des Entgegenkommens der EU und der Schweiz.
Neben der Anbindung an die beiden Wirtschaftsräume: Welche Standortvorteile bietet Liechtenstein heute?
Die politische Stabilität und unser liberales Wirtschaftsmodell sind sicher sehr wichtig. Auch werden die kurzen Wege und die geringe Bürokratie bei uns sehr geschätzt. Wir versuchen, den administrativen Aufwand für Unternehmen so gering wie möglich zu halten. Und die Lohnnebenkosten sind bei uns vergleichsweise tief.
Liechtenstein ist sehr international aufgestellt. Wie sorgt das Fürstentum dafür, dass es seine Identität behält – und nicht einfach zu einem europäischen Singapur wird?
Etwa mit einer Sonderregelung, die wir 1995 mit Brüssel aushandeln konnten: Der Zuzug ins Land ist beschränkt. Jährlich dürfen nur 56 Erwerbstätige aus der EU mit ihren Familien ins Land zuziehen. Die eine Hälfte dieser Quote wird ausgelost, die andere von der Regierung nach volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten vergeben. Hingegen ist der Zugang zum Arbeitsmarkt vollständig offen, Firmen aus dem europäischen Raum können sich in Liechtenstein ohne Beschränkung niederlassen.
Die Bevölkerung wird also kaum wachsen. Wie strebt Liechtenstein generell Wachstum an?
Angesichts der aktuellen Herausforderungen – zum Beispiel des Klimawandels, der demografischen Entwicklung oder der Gefährdung der Energiesicherheit und -versorgung – wird nicht mehr zwingend nur das quantitative Wachstum im Vordergrund stehen, sondern vielmehr auch das qualitative. Wir wollen die heute ansässigen Unternehmen, die vor allem im Hightech-Bereich tätig sind, pflegen und innovative KMU und Start-ups zu uns holen, indem wir für sie bestmögliche Rahmenbedingungen schaffen. Dazu gehören in erster Linie Massnahmen zur Bekämpfung des Arbeitskräftemangels, die Förderung der Digitalisierung sowie der rasche Umstieg in erneuerbare Energien.
LIECHTENSTEIN ZAHLEN UND FAKTEN
- Grösse
160,5 Quadratkilometer – etwas kleiner als der KantonAppenzell Innerrhoden.
- Bevölkerung
39 680, davon ein Drittel Ausländer; die Bevölkerungszahl hat sich in den letzten fünfzig Jahren verdoppelt.
- Staatsform
Seit 1921 eine konstitutionelle Erbmonarchie auf demokratisch-parlamentarischer Grundlage. Im dualistischen
- Staatssystem teilen sich Fürst und Volk die Souveränität.
- Fürst
Hans-Adam II., vertreten durch Erbprinz Alois von Liechtenstein.
- Legislative
Landtag, bestehend aus 25 Personen; die einander recht ähnlichen Parteien Fortschrittliche Bürgerpartei FBP
und Vaterländische Union VU werden je von etwa einem Drittel des Stimmvolks gewählt, der Rest der Stimmen verteilt sich auf mehrere Kleinparteien.
- Exekutive
Fünfköpfige Regierung, Koalition von FBP (2 Regierungsmitglieder, darunter die Regierungschef-Stellvertreterin)
und VU (3, darunter der Regierungschef Daniel Risch).
- Frauenstimmrecht
Seit 1984; Liechtenstein führte das Frauenstimmrecht als letztes Land in Europa ein.
- Gründung
23. Januar 1719, unabhängig seit 12. Juli 1806 (Aufnahme in den Rheinbund).
- Religion
Katholisch; 1997 wurde das Erzbistum Vaduz gegründet, um den umstrittenen Bischof Wolfgang Haas aus Chur wegzubefördern – damit endete eine 1500-jährige Verbundenheit mit dem Bistum Chur.
- Tourismus
Hauptdestination ist im Winter und im Sommer das Bergdorf Malbun. Lohnend sind Talwanderungen, etwa entlang des Liechtenstein Wegs, Besuche der mittelalterlichen Burgen sowie der zahlreichen Museen entlang der Museumsmeile in der Fussgängerzone von Vaduz.
Der Beitrag "Vom Agrarstaat zum Wirtschaftsstandort" erschien in der Ausgabe vom 19. Juli 2023 in der SonntagsZeitung.